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Sonntag, 5. September 2010

Die Rassisten sind frei, wer kann sie erraten?

Die Fälle Sarrazin und de Gucht zeigen, dass die Maßstäbe durcheinandergeraten sind, die bestimmen, wie weit Meinungsfreiheit gehen darf.

"Gebt Gedankenfreiheit!", bittet der Marquis von Posa, ein heimlicher Kämpfer für Freiheit, den spanischen König Phillip, in einem der dramatischten Szenen des ganzen Stücks (3.Akt, 10.Auftritt). Doch der Marquis wird getötet und seine Ideale, für die er gekämpft hat, konnte er nicht erreichen. Die zeigt tragischerweise, wie schwierig es ist, seine Meinung zu sagen, wenn sie der landäufigen Meinung widerspricht. Immer diese Unterdrücker!

"BILD kämpft für Meinungsfreiheit: Das wird man wohl noch sagen dürfen", lautet der Titel der letzten Bild-Zeitung, worauf einige Fragen aufgelistet werden, um die es hier aber weniger gehen soll. Scheinbar ein zweiter Posa, der sich hier zeigt. Doch der Hintergrund ist, auch wenn es auf dem Titel nicht erwähnt wird, doch eindeutig und führt dazu, dass der "Kampf" für Meinungsfreiheit doch kritisch zu betrachten ist: der Fall Sarrazin, aus dessen Buch die Bild-Zeitung einige Auszüge vorabdruckte. Erkennbar ist dies auch auf der (oben verlinkten) Bild-Homepage, auf der ein Bild mit einem hilflosen Sarrazin zu sehen ist, der von Reportern umringt wird. Daneben steht in genauso typischer Bild-Manier: "Wir wollen keine Sprechverbote!". Immer dieser Unterdrücker!

Ist also nicht nur die Bild-Zeitung, sondern auch noch - und durch das "tragische" Element noch eher - Sarrazin als Nachfolger Posas zu sehen, der nur seine Meinung sagt, die aber leider nicht mit der öffentlichen Meinung übereinstimmt? Es ist viel gesagt worden über Sarrazin und seine Provokationen. Die einen sind empört, die anderen stimmen ihm zu und sehen ihn als ein Opfer von Zensur - ein Marquis von Posa also.

Aber nicht erst mit seiner Aussage, jeder Jude trage "ein bestimmtes Gen" - was wissenschaftlich falsch ist -, sondern auch mit seinen Ausführungen über muslimische Einwanderer, die er, zusammengefasst, als dumm und faul ansieht, Eigenschaften, die sich sogar vererben würde, zeigt er rassistische Züge, die an die Grenzen der Meinungsfreiheit führen, sie sogar überschreiten. Denn sie verletzen den ersten Artikel des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Mehr möchte ich zu Sarrazin an dieser Stelle nicht sagen, da schon genug gesagt wurde, auch wenn das anscheinend noch nicht bei jedem angekommen ist. Leider gibt es immer noch Leute, die ihm einfach glauben.

Doch es scheint ein zweiter Sarrazin auf die öffentlichen Bühne getreten zu sein: Karel de Gucht, der in einem Interview sagte, dass die meisten Juden denken würden, "dass sie recht haben" und kritisiert die jüdische Lobby in den USA, die unter anderem dafür verantwortlich seien, dass es nie zu Frieden im Nahen Osten kommen wird. Es sei nicht einfach, "selbst mit einem gemäßigten Juden ein rationales Gespräch über das zu führen, was sich im Nahen Osten abspielt." Die Reaktionen von jüdischer Seite waren heftig: man warf ihm Pauschalisierung vor. Das Europäische Jüdische Kongress verglich ihn sogar mit Sarrazin.

Ist dieser Vergleich gerechtfertigt? Nehmen wir, anders als man das bei Nazi-Vergleichen normalerweise tun sollte, diesen Vergleich mal ernst und untersuchen Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Auf der einen Seite steht Sarrazin, jemand, der Muslime im Ganzen diffamiert, ihnen Faulheit und Dummheit vorwirft und dies an bestimmten Genen festmacht: Vergleiche mit nationalsozialistischen Rassenideologien sind in diesem Fall nicht zu hoch gegriffen. Denn dem dummen und faulen Moslem steht der kluge und tüchtige Deutsche gegenüber. Dass er auch andere Migranten lobt, etwa aus Vietnam, ist kein Argument gegen diesen Vergleich, da die Nazis auch Rassen hatten, denen sie eine Nähe zu den Ariern zusprachen auf ihrer Rassen-Pyramide.

Auf der anderen Seite steht De Gucht, der versucht, politische Aussagen über jüdische Einstellungen gegenüber dem Nah-Ost-Konflikt zu machen, diese aber pauschal ausfallen. In Ansätzen hat er ja sogar recht. Dass seine Aussagen über jüdische Lobbys an Verschwörungstheorien erinnern, ändert nichts daran, dass sie nicht falsch sind, denn einige amerikanisch-jüdische Lobbys (eine Pauschalisierung, die wohl der Interview-Situation geschuldet ist) versuchen sehr stark die amerikanische Außenpolitik in Bezug auf Israel zu beeinflussen und gegen eine Zwei-Staaten-Lösung sind (sehr einflussreich ist die Lobby Aipac). Seine Aussagen über Juden mögen vielleicht wirklich pauschalisierend sein. Schließlich gibt es sicher auch Juden, die nicht so denken, die alles für einen Frieden tun würden (so etwa die amerikanische Lobby J Street) - und Juden, denen das egal ist, was dort passiert, da sie sich nicht als Juden fühlen.

Letztendlich ist aber der Vergleich mit Sarrazin doch etwas übertrieben. Diplomatisch bzw. differenziert waren De Guchts Aussagen mit Sicherheit nicht. Doch ihm gleich mit einem doch sehr offensichtlichen Rassisten zu vergleichen, ist übertrieben. Der Unterschied ist der, dass der eine (Sarrazin) die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreitet und der andere nur nicht gerade klug formuliert. De Gucht: vielleicht kein Posa, aber auch kein Rassist.